Ukraine: Der Krieg ist kein Einzelfall

Ukraine: Der Krieg ist kein Einzelfall

15. April 2022 Aus Von Stephan Bordt

Der Krieg in der Ukraine ist unvorstellbar grausam, Putin als Aggressor ein Massenmörder. Warum aber so viele Menschen so tun, als würde es nicht zu jeder Zeit etliche Kriege mit viel Leid, Zerstörung und Sterben geben, ist rätselhaft. Besonders irritierend: Darunter sind viele Politiker*innen und politisch aktive Menschen, die eigentlich das nötige Bewusstsein dafür haben müssten, dass diverse Kriege in den letzten Jahrzehnten Millionen Menschenleben gefordert, noch mehr Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und häufig ganze Länder verwüstet haben. Die Namen sind bekannt: Jugoslawien, Irak, Afghanistan, Syrien, Sudan, Sierra Leone, Somalia, Jemen … Das blutigste Schlachtfeld der letzten fünfzig Jahre dürfte meines Wissens die Verkettung mehrerer Konflikte in Zentralafrika zwischen 1994 und 2003 in den Ländern DR Kongo (ehem. Zaire), Uganda und Ruanda mit mindestens fünf Millionen Toten gewesen sein. Außer zum grauenhaften Beginn des Gemetzels, dem Genozid an den Tutsi 1994 mit ca. 800.000 Toten in nur 100 Tagen, forderte niemand direkte oder indirekte militärische Interventionen. Auch für den Jemen, wo in einem mehrjährigen Stellvertreterkrieg zwischen dem Iran auf der einen, Saudi-Arabien und weiteren sunnitisch-dominierten Staaten auf der anderen Seite bereits bis zu einer viertel Million Menschen ums Leben gekommen sind und wohl mittlerweile beinahe das ganze Land wie die ukrainische Hafenstadt Mariupol zugerichtet ist, fordern nur wenige, kaum vernehmbare Stimmen Embargo-Maßnahmen, Waffenlieferungen, Intervention etc. Schon gar nicht die Parteimitglieder von Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE, die jetzt am lautesten nach Waffen für die Ukraine schreien.

Jeder Krieg ist schrecklich und grausam

Um das klarzustellen: Ich will damit auf keinen Fall den Krieg in der Ukraine relativieren. Im Gegenteil: Ich werfe allen, die meine Genoss*innen und mich wegen unserer Zurückhaltung bis Ablehnung bezüglich Waffenlieferungen an die Ukraine beschimpfen, Relativierung der anderen Konflikte vor. Sind etwa die unzähligen Kriegsopfer in Afrika oder Asien weniger zu beklagen als in Europa? Warum dieser fanatische Wunsch nach Waffen, wo eben noch Pazifismus und Abrüstung als unumstößliche Prinzipien galten? Liegt es an der räumlichen Nähe oder der medialen Präsenz des Krieges?

Und noch eine Klarstellung: Ich bin keineswegs bereit, alle Parteimitglieder der LINKEN für ihre ablehnende Haltung gegenüber militärischer Hilfe für die Ukraine zu verteidigen. Es beschämt mich sehr, dass es wirklich „Genoss*innen“ gibt, die Russland nicht die alleinige Verantwortung für diesen Krieg geben. Oder die von Interessenausgleich für Russland reden. Natürlich hat der Krieg eine Vorgeschichte, in der EU und NATO eine zumindest zwiespältige Rolle spielen. Aber niemand außer Putin und seine Entourage hat diesen Krieg ohne Not begonnen. Die Relativierung der russischen Kriegsschuld finde ich zum Kotzen!

Suche nach Alternativen zur militärischen Logik

Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen Überlegung, wie mit militärischen bzw. paramilitärischen Aggressionen, Imperialismus, Terror und Krieg umgegangen werden kann. Was gilt gleichermaßen für Kriege und Konflikte bei all ihren Unterschieden in der Ukraine, Afghanistan, im Nahen Osten, in Afrika und Asien? Natürlich müssen die Antworten so unterschiedlich wie die Ursachen und Kräfteverhältnisse ausfallen. Doch es gibt Grundsätze, auch nach dem 24. Februar 2022. Ich selbst habe mich trotz Kriegsdienstverweigerung nie als Pazifist gesehen, vor allem weil ich bis heute überzeugt bin, dass Hitler nicht anders als durch militärische Mittel in die Knie zu zwingen war. Doch Hitler ist nicht der Maßstab. Was ist mit den vielen Kriegen nach 1945? Wäre eine Konfliktbefriedung unter Vermeidung großer Opferzahlen durch deeskalierende Maßnahmen immer möglich gewesen? Ich weiß es nicht, um ganz ehrlich zu sein.

Umgekehrt haben allerdings militärische Interventionen, ob direkt oder indirekt z.B. durch Waffenlieferungen, selten bis nie zu einer Konfliktlösung beigetragen. Jugoslawien hat es deutlich gemacht: Es gab viele Opfer, aber unter den Antreibern der Konfliktparteien keine Guten mit weißer Weste. Alle verfolgten letztendlich verbrecherische Ziele. Eine frühe Festlegung auf die Unterstützung separatistischer Kriegsparteien heizte den Konflikt definitiv an. Was umgekehrt keine Rechtfertigung für jugoslawische bzw. später dann serbische Kriegsverbrechen sein darf.

Krieg ist immer Klassenkrieg

Was unzweifelhaft sein und auch auf Konsens bei den Waffenlieferungsbefürworter*innen zumindest in großen Teilen der linken und linksliberalen Öffentlichkeit stoßen dürfte, ist die Notwendigkeit, Konflikte möglichst schon vor einer militärischen Auseinandersetzung zu klären. Ich schreibe bewusst nicht „zu befrieden“. Denn es geht nicht (nur) um Befriedung, sondern in erster Linie um die Benennung von Interessen, Gegensätzen, Konfliktlinien und auch Verbindendem. Dabei dürfen ganz grundsätzliche Faktoren eines jeden Krieges bzw. Konfliktes zwischen Nationen und nationalen Untergruppen nicht vergessen werden: In jedem Konflikt und damit in jedem Krieg geht es um Machtinteressen. Eine Aggression findet immer mit dem Ziel eines greifbaren Vorteils für den Aggressor statt. Über Aggression, Krieg und Frieden, Macht und Ohnmacht, territoriale Integrität oder Infragestellung entscheiden immer – immer! – die Mächtigen. Den Konflikt trägt immer – immer! – das gemeine Volk aus. Krieg ist immer Klassenkrieg, ein Machtkampf der Mächtigen auf dem Rücken der Ohnmächtigen.

Das gilt besonders für rein nationale Konflikte. So ist klar, dass die russischen Soldaten, die den Überfall auf die Ukraine praktisch umsetzen und dabei hohe Opferzahlen zu beklagen haben, gehorsames Kanonenfutter sind – mehr nicht. Ihre Massaker an der ukrainischen Zivilbevölkerung sprechen zwar dafür, dass der militärische Widerstand der Ukraine mehr ist als nur eine nationale Maßnahme und damit für jeden einzelnen ukrainischen Soldaten eine Opfergabe auf dem Altar des Nationalismus. Trotzdem ist es für einen wehrpflichtigen Ukrainer legitim, sich nicht am Krieg zu beteiligen, sondern den Kriegsdienst zu verweigern und sich dem Kampf zu entziehen. Denn an erster Stelle steht in diesem Krieg die Verteidigung einer Nation gegen die Aggression einer anderen Nation. Nicht mehr und nicht weniger.

Internationalismus schafft Frieden

Die Deutschen haben spät, aber immerhin irgendwann mit einem unzweifelhaften Schuldeingeständnis – ein vermutlich unerwartetes Lob von meiner Seite – den ehemaligen Angegriffenen im Zweiten Weltkrieg die Hand gereicht. Das hat Schuld nicht aufgelöst und nicht alle Konflikte begraben. Aber das war der Weg in die richtige Richtung, weg von nationalen Befindlichkeiten, hin zu einer gemeinsamen Welt offener Grenzen. Leider galt das nie für alle, siehe u.a. die Abschottungspolitik gegen Geflüchtete, und leider zerstört nun Putin dieses Pflänzchen auch schon wieder. Das Trennende wächst erneut, nur die Grenzen sind verschoben. Damit liefert der dumpfe Despot im Kreml ungewollt das stärkste Argument für den Internationalismus. Denn Menschen sind Menschen, egal was für eine Sprache sie sprechen, ob sie an einen Gott glauben und wer ihren Pass ausgestellt hat. Links sein heißt immer, sich gegen eine selektive Machtelite und die Logik des Krieges zu wehren. Denn die Alternative zur Kriegslogik sind Solidarität und Gemeinsamkeit über das Trennende hinweg. Das Interesse der einfachen Menschen ist ein gutes Leben in Frieden und damit das Gegenteil einer auf nationalen Pathos, Unterwerfung und Ausbeutung basierenden Politik. Hoch die Internationale!

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