Polizei, Nazis und der Schein der Zivilgesellschaft

Polizei, Nazis und der Schein der Zivilgesellschaft

22. Januar 2021 Aus Von Stephan Bordt

Die Spitze des Eisbergs oder besser der Gipfel der Unverschämtheit war am 7. November 2020 erreicht: In Leipzig trafen sich über 20.000 Idioten einer Mischung aus Coronaleugnern und Rechtsextremen aller Abstufungen. Von Anfang an wurde ihre völlige Missachtung von Auflagen wie Abstand und Maskenpflicht durch die Polizei ebenso geduldet wie Nazi-Symbole und Aufrufe zur Gewalt. Dann brach die Masse auch noch zu einer verbotenen Demonstration auf. Nazihools randalierten, Coronaleugner feierten, die Polizei gab sich machtlos. Um das Klischee perfekt zu machen, schickte sie am selben Abend zu einer kleinen Barrikade von vermeintlichen Vertreter*innen linker Subkultur sofort Räumpanzer und Wasserwerfer.

Leipzig war sozusagen das Labor, in dem die jahrzehntelang praktizierte deutsche Realität in konzentrierter Form durchexerziert wurde: Die Rechten und Demokratiefeinde schalten und walten lassen, auf die Linken eindreschen. Dafür gibt es unzählige weitere Beispiele. Gerade die Pandemie und ihr Phänomen der selbstsüchtigen Leugner in Verbrüderung mit den härtesten Nazis bringt eine große Zahl an Beispielen ungerechtfertigter Duldung von Verhöhnung oder Angriffen gegen unsere Gesellschaft hervor. Gleichzeitig wird linker Protest wie „Hambi“ und „Danni“ unnachgiebig verfolgt. Im Prinzip scheint sich seit über 100 Jahren, als während der Geburtswehen der Weimarer Republik die Staatsmacht und rechte Terrorkommandos ohne klare Trennlinien jeden Fortschritts- und Freiheitsfunken im Keim erstickten, wenig geändert zu haben. Nur Tote gibt es heute bedeutend weniger. Die sogenannte Zivilgesellschaft hat dem hemmungslosen Morden einen Riegel aus Regeln und Wertvorstellungen vorgeschoben. Wie kommt es dann aber, dass die Zivilgesellschaft nach wie vor diese unübersehbare Parteinahme der Ordnungshüter auf Demos duldet?

Um das hier mal klarzustellen: Ich bin kein „Bullenhasser“. Grundsätzlich bin ich froh, dass es eine Instanz gibt, die dem Recht des Stärkeren zumindest in den brutalsten Formen Einhalt gebietet (häufig genug ist dieses Recht durch unser Wirtschaftssystem gedeckt). Ich habe da auch schon gute Alltagserfahrungen sammeln können. Dumm nur, dass ich dann auf unzähligen Demos und Kundgebungen über mehrere Jahrzehnte ausgerechnet die Polizei als Repressionsinstrument eines Staates erleben muss, der damit ganz schnell die bürgerlich-liberale Hülle fallen lässt, um autoritär durchzugreifen. Ganz dramatisch – nicht immer, aber in der Mehrzahl – ist die Hau-drauf-Mentalität bei Blockaden und Demos gegen Nazis. Zwar werden da meistens die Nazis, die es total mit verfassungsfeindlichen Symbolen und gefährlichen Waffen übertreiben, von der Polizei gestoppt, das sei hier erwähnt. Aber ansonsten werden in der Regel ihre Anliegen – und richten diese sich noch so sehr gegen die FDGO (Freiheitlich-demokratische Grundordnung), die zu verteidigen die Polizei zuständig ist – ganz unverblümt vorrangig vor denen der Gegendemonstrant*innen behandelt. Sprich: Wir bekommen auf die Glocke, die Nazis können ihren Hass und Verschwörungswahn durchziehen – siehe Leipzig!

Dass damit ein verheerendes Signal an die Gesellschaft gesendet wird, ist entweder gewollt oder wird ignoriert. Dieses Signal lautet: Die Staatsmacht ist immer tendenziell rechts. Die ganzen Bemühungen um gesellschaftliche Fortschritte wie Verbesserung der Chancengleichheit von benachteiligten Gruppen, Bemühungen gegen den Klimawandel etc. bekommen den Beigeschmack, nur die eine Seite der Medaille Bundesrepublik zu sein. Auf der anderen Seite artikulieren sich Staatsmacht und Machtinteressen wie eh und je brutal gegen jede Kritik von links, Duldung rechter Umtriebe inklusive. Selbst jemand, der wie ich mit meinem Job für den Mannheimer Gemeinderat sozusagen Realpolitik zum Beruf gemacht hat, stellt sich in solchen Situationen als Teilnehmer einer eher links verorteten Demonstration oder als Zeuge von Umtrieben wie in Leipzig am 7. November die Frage, ob man sich nicht im Erdgeschoss des Staates – Kommunalpolitik – in endlosen Kompromissen um kleine politische Erfolge müht, während im Keller weiter das alte Monster des autoritären Obrigkeitsstaates am Leben gehalten und ab und zu raus auf die Straße gelassen wird.

Das ist natürlich nur ein Bild, keine Verschwörungstheorie. Diese ist Sache der anderen Seite. Das Bild steht für ein Unbehagen, das nie ganz verschwinden wird, solange auf der Straße eine ganz andere Wahrheit existiert als in den Parlamenten und Verlautbarungen. Die Frage ist, was mehr über eine Gesellschaft aussagt. Ich weiß es nicht genau, aber die Straße gibt zumindest kein Trugbild ab. Damit bleiben die Abläufe dort erklärungsbedürftig. Auch von denen, die so tun, als würden Leipzig, Hambi und Danni auf anderen Planeten stattfinden, während sich Politik und Gesellschaft in unserem Land in einem Salon befinden, in dem zivilisiert und allseits gleichberechtigt am gesellschaftlichen Fortschritt gestrickt wird. Mich überzeugen sie erst, wenn sich ihre vielbeschworene Zivilgesellschaft auch auf der Straße durchgesetzt hat. Na ja, selbst dann bleibt noch genug Hässliches, was unter diesem Deckel der Bürgerlichkeit brodelt: Armut, Ausbeutung, Unsicherheit …

Foto: recherche-nord, Creative Commons https://www.recherche-nord.com/

Please follow and like us: