Elefanten schweben nicht

Elefanten schweben nicht

12. Oktober 2021 Aus Von Stephan Bordt

Dies ist das Märchen von drei Elefanten, die vor lauter Selbstgerechtigkeit nicht merken, wie sie sich von dummem Gekläffe am Rüssel herumführen lassen.

Rund um Politelli, dem größten Zirkus der Welt, erstrecken sich über den Hügel und bis weit in die Ebene die Gehege der Zirkustiere. Ganz unten wohnen die Tiere, die nur auf Abruf gehalten und von den Stars der Manege gerne Fußvolk genannt werden. Auf einer Wiese unterhalb des Hügels, deren Zäune mit roten Bändchen markiert sind, ist ein buntes Völkchen aus vielen Tierarten und Altersstufen zuhause. Diese Tiere lieben es, den ganzen Tag zu diskutieren und Tiere in anderen Gehegen zu überzeugen, dass auf dem Gelände und dem Rest der Welt vieles besser laufen könnte. Auch wenn sie sich untereinander selten einig sind, wie dieses Viele dann aussehen würde. Am Tor steht der von seinen Bewohnern gewählte Name des Geheges: „Die Gerechten“. Auf der ersten Anhöhe innerhalb der Umzäunung thronen drei Elefanten im Ruhestand. Gelegentlich mischen sie sich in die Diskussionen zwischen den Tieren mit Kommentaren ein, mit denen sie ihre Erfahrung und Weisheit unterstreichen. Wie alle pensionierten Elefanten auf dem Gelände von Politelli schütteln sie gerne und häufig die Köpfe über die Ahnungslosigkeit der nachfolgenden Generationen, so dass ihre großen Ohren flattern und die Rüssel schlenkern, und tröten: „Wenn wir da an früher denken …“

Eines Tages zwängt sich ein kleiner Hund, ein Rehpinscher, durch eine Lücke im ziemlich durchlässigen Zaun der Gerechten. Nachdem er eine Weile auf der Wiese zwischen den vielen diskutierenden Gruppen herumgestreunert ist, mischt er oder besser gesagt sie, denn es handelt sich um eine Hündin, hier und dort vorsichtig ein. Da die Hunde, Katzen, Rehe, Haus- und Wildschweine, Zebras, Affen und unzähligen anderen Tierarten kaum Misstrauen kennen, gelingt es der Rehpinscherin bald, ihr Vertrauen zu erlangen. Zwar weiß niemand, wo sie herkommt – sie behauptet, sie sei aus Transsilvanien, doch es wird gemunkelt, sie stamme lediglich von der anderen Seite des Flusses – und was sie auf diese Wiese verschlagen hat. Doch da gerade eine Wahl ansteht und sich niemand außer ihr meldet, die Interessen des Geheges im Rat der Ratlosen zu vertreten, kann sie unerwartet dieses Amt ergattern. Nun fühlt sich der kleine Hund plötzlich ganz groß und zu Höherem berufen.

Die drei Elefanten, die über der Wiese sitzen, betrachten die Ernennung mit geringem Interesse. Sie hätten nur dazwischengetrötet, wenn die Wahl auf jemand von diesen jungen Heißspornen mit ihren neumodisch unpolitellischen Ansichten gefallen wäre. Der jüngste der drei Dickhäuter macht eine Bemerkung, die nur er für witzig hält, weshalb er kräftig tröten muss, bevor er wieder sehnsüchtig zur Nachbarwiese blickt, auf der die roten Nelken blühen. Der mittlere überlegt sich hochwürdig einen klugen Kommentar, während der dritte sich erhebt, um hinab auf die Wiese zu schweben, so kommt es ihm zumindest vor, auch wenn seine schweren Beine dabei bei jedem Schritt das Gras zertrampeln. Er wird den einfachen Tieren und der Rehpinscherin seinen weisen Rat anbieten. Denn ohne diesen wird es nicht gehen.

Das Hündchen hat gar nicht darauf geachtet, was es eigentlich tun soll in seinem neuen Amt, doch das ist ihm auch egal. Für die Rehpinscherin ist das Wichtigste, über die Wiese zu stolzieren und allen kluge Ratschläge zu geben. Alle wundern sich, woher das kleine Tier die Überzeugung nimmt, mehr Ahnung vom Leben auf dem Politelli-Gelände zu haben als jedes andere Tier auf der Wiese. Da sie außer überheblichem Gekläffe jeden Beweis für ihre Behauptungen schuldig bleibt, sind bald die ersten Tiere genervt. Einige fauchen oder knurren sie an. Nur der schwebende Elefant ist von der Ähnlichkeit ihrer Gedanken beeindruckt. Das kleine, hoffnungsvolle Hündchen muss beschützt werden gegen diese ungebildeten Viecher.

So vergeht einige Zeit, in der die Abneigungen gepflegt werden, ohne dass davon etwas bis zu den drei Elefanten hinaufdringt. Dafür beunruhigen sie die Ereignisse oben in der Zirkus-Manege. Von großen Umbrüchen und Streit ist die Rede. Die Dickhäuter geraten in größte Sorge, dass deshalb auch auf ihrer Wiese Forderungen nach Veränderungen laut werden könnten. Der elefantastischen Ordnung droht Gefahr. Zwischen den Tieren, die sich die Gerechten nennen, entsteht eine allgemeine Unruhe und es werden wilde Diskussionen geführt.

Das Rehpinscher-Weibchen sieht sich bemüßigt, den in seinen Augen ahnungslosen Tieren die Ereignisse im großen Zirkuszelt zu erklären. Wie sollen sie es auch sonst begreifen? Doch mit seiner vermeintlichen Klugheit heizt es ungewollt die gereizte Stimmung noch an. Eine als ungezügelt verrufene Herde lässt ihrem Ärger gegen das Hündchen freien Lauf. Ein Straßenköter bellt ihr seine Wut entgegen, dass es ganz verängstigt zu den Elefanten rennt, so schnell es kann. Der Köter ist ihr dicht auf den Fersen. Da macht der Elefant, der glaubt schweben zu können, einen großen Satz, kommt zwischen dem Rehpinscher und dem Straßenköter zum Stehen, dass die Erde bebt, und trötet dem Verfolger so laut entgegen, dass der einen Salto rückwärts macht. Die ganze Wiese starrt gebannt auf den Lärm. Der Elefant fühlt sich seit langem endlich wieder ernstgenommen und verkündet mit feierlicher Stimme, dass sich gefälligst alle an die höhere Ordnung zu halten haben. Während der Straßenköter sich trollt, versteckt sich das Rehpinscherlein zwischen den mächtigen Vorderbeinen des Elefanten.

Der Elefant stolziert die kleine Anhöhe hinauf und nimmt neben seinen Freunden Platz. Die wundern sich, dass er sich ein Schoßhündchen zugelegt hat, dem er bedächtig mit dem Rüssel über das kurze Fell streicht. Doch beide denken, er wird in seiner Weisheit schon wissen, was er tut. So war es immer in ihrer gemeinsamen Zeit. Vor lauter Zufriedenheit bemerken sie jedoch nicht, dass sich etwas zusammenbraut. Anders als die drei Elefanten und das Rehpinscherlein sind die Tiere unten auf der Wiese unzufrieden. Eine schwarze Katze maunzt, dass die alten Dickhäuter ein Tier in ihren Schutz gestellt haben, das andere Tiere im Stich gelassen – eine allseits beliebte Kaltblut-Stute nickt bedächtig – und sie herablassend behandelt hat. Ein großer Braunbär brummt, sie könnten ja die Vier auf der Anhöhe einfach nicht beachten. Doch in diesem Moment kläfft das Hündchen, dass es den Hügel weiter hinauf, vielleicht sogar irgendwann bis in die Zirkusarena wolle, um das Gehege der Gerechten zu vertreten. Davon ist nun auch der Braunbär nicht begeistert. Das allgemeine Murren wird lauter.

Diesmal lassen sich die drei Elefanten nicht beunruhigen. Sie vertrauen auf ihre Erfahrung, dass sich das Gemurre legen wird und die Tiere ohne sie nicht viel auf die Reihe bringen. Nur das Schoßhündchen bleibt sicherheitshalber in der Nähe seines Beschützers. Unten gibt es viele Diskussionen, manche tuschelnd, manche laut und leidenschaftlich. Einige Tiere ziehen von Herde zu Herde, von Grüppchen zu Grüppchen. Dann entsteht eine eigentümliche Ordnung auf der Wiese. Erfahrene Tiere, die ähnlich den Elefanten die Zirkusmanege gut kennen, halten kurze Reden. Dann wird eine Wahl abgehalten. Eine Löwin und ein Fuchs werden ab sofort die Interessen der Tiere vertreten. Die Tiere auf der Wiese jubeln so laut, dass die Nachbarn von den anderen Gehegen neugierig zu ihnen hinüberschauen. Nur die drei Elefanten sind entsetzt. Der über den Dingen schwebende Elefant springt auf und verkündet ohrenbetäubend laut die Ungültigkeit der Wahl. Aus vielen Kehlen schallt es aber zurück, dass dies seine Privatmeinung sei. Hilfesuchend blickt er sich um. Doch seine beiden dickhäutigen Gefährten flattern ratlos mit den Ohren, was so viel wie Schulterzucken bei den Menschen bedeutet. Da merkt der gar nicht mehr schwebende Elefant, dass seine Zeit vorbei ist. Mit hängendem Kopf, dass die Rüsselspitze auf dem Gras entlangstreicht, kehrt er an seinen Platz zurück.

Der Rehpinscher hat sich inzwischen kläffend aus dem Staub gemacht. Er springt durch die selbe Lücke im Zaun, durch die er gekommen ist, und macht sich auf die Suche nach einem Gehege, in dem seine Fähigkeiten endlich gewürdigt werden, anders als bei diesem dummen Volk der angeblich Gerechten, die sich besser in die Ahnungslosen umbenennen sollten. Der einst schwebende Elefant vermisst ihn nicht, ihm wurde das Hündchen ohnehin schon langsam lästig. Er debattiert lieber mit seinen Freunden über den Verfall der politellischen Sitten und wie erfolgreich doch früher die Disziplin in der Elefantenherde mit den roten Sternen war. Der Hochwürdige lächelt milde, der andere antwortet mit einem Witz, über den nur er selbst sich amüsiert. Unten auf der Wiese werden neue Erfahrungen mit anderen Gehegen ausgetauscht und sogleich ausprobiert. Neue Tiere kommen dazu. Niemand beachtet die Elefanten auf der Anhöhe, obwohl die nun wirklich ein bisschen weiser als zuvor sind. Sie haben verstanden, dass niemand von ihnen über den Dingen schwebt.

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