
30 Jahre Umzug nach Hamburg: Ein Irrtum
Vor 30 Jahren, im August 1991, bin ich nach Hamburg gezogen. Eine enttäuschte, einseitige Liebesbeziehung nahm ihren Lauf. Dort strandete ich, musste sehr lange in einer gefühlten Verbannung bleiben, wurde das erste Mal Vater und lernte fast zwölf Jahre später meine heutige Frau kennen. Die Stadt war (ist?) interessant, teilweise auch sehr außergewöhnlich, doch ich passte nie dorthin. Als ich sie 18 Jahre später verließ, war die Luft schon lange raus und ich fühlte mich extremst befreit. Ich bin sehr froh, heute nicht mehr an der Elbe, sondern in der Rheinebene zu leben.
St. Pauli und der Hafen als der Unterschied
Als ich das erste Mal in Hamburg gemeinsam mit einer bunten Truppe aus unserem besetzten Haus in West-Berlin in einem alten Ford Transit an der Balduintreppe mit Blick auf die Elbe und die Docks von Blohm und Voss ankam, hat es bei mir sofort gefunkt. St. Pauli, dieses Herzstück der Subkultur und des Anything-goes mit seiner Lage oberhalb des Hafens, dem gefühlten Tor zur Welt – auch wenn es weitgehend nur noch ein riesiger durchrationalisierter Logistikbetrieb ist – war ein starker Magnet. Kein anderer mir bekannter Ort in diesem Land, auch nicht Berlin, hatte soviel Offenheit für unterschiedliche Lebensformen und dabei auch noch die Betriebsamkeit eines Überseehafens zu bieten. Ob davon noch viel übrig ist, kann ich nicht beurteilen. Ich war schon lange nicht mehr da.
Etwa anderthalb Jahre nach meinem ersten Besuch in Hamburg floh ich aus dem nach dem Mauerfall unerträglich überdrehten Berlin ins Hamburger Schanzenviertel. Die Klischeevorstellungen von Hamburg haben für mich tatsächlich einen wesentlichen Reiz der Stadt ausgemacht: St. Pauli und die angrenzenden Viertel, Elbe, Hafen. Die ersten Jahre als Studienabbrecher und Jobber waren von WG-Hopping und prekärer Existenz, aber auch viel Nachtleben, neuen Freundschaften und guten Erfahrungen geprägt.
Verrücktes Leben in einem Meer aus Spießigkeit
Ich habe immer im Westen der Stadt gewohnt, im Schanzen- und Karoviertel, in Eimsbüttel und Altona, die letzten Jahre an der Grenze zu St. Pauli, einen Steinwurf von der Talstraße und der Großen Freiheit entfernt. Der Rest der Stadt bietet zwar viel Sehenswertes, aber wenig Liebes- und Lebenswertes. Was mir erst nach und nach bewusst wurde: Hamburg hat für seine Größenordnung einen ungewöhnlich großen Anteil an spießigen, konservativ geprägten Vororten. Und obwohl der Hafen seit Jahrhunderten das Leben in der Stadt bestimmt und auch heute noch als einer der größten der Welt das Stadtbild prägt, was eine gewisse Weltoffenheit erwarten lässt, musste (nicht nur) ich mir ständig die Frage anhören: „Du bist aber nicht von hier, oder?“
Aus ähnlichen Gründen wurde ich mit der Politszene, durch die ich überhaupt erst an die Elbe kam, nie recht warm. Nach meinen Aktivitäten in der extrem offenen, schnelllebigen Berliner Szene blieb ich in Hamburg ein Außenseiter. Dafür wendete ich mich der Fußballszene rund um den FC St. Pauli zu. 16 Jahre hatte ich eine Dauerkarte am Millerntor. Bis zum Beginn der Pandemie ging ich auch noch gelegentlich zu Auswärtsspielen. Mit der auf Dauer für mein Empfinden allzu sehr spaß- und styleorientierten Fußballszene habe ich allerdings kaum noch Berührung.
Das Arbeitsleben war kaum standortspezifisch bis auf einige Jobs, die mich in den Freihafen führten. Es ist reine Spekulation, ob es woanders besser oder schlechter gelaufen wäre.
Eine Stadt im Wandel und ich mittendrin
Nach den krassen Abwehrkämpfen der Linken in der ersten Hälfte der Neunziger, die mich u.a. nach Mölln und Rostock-Lichtenhagen führten, und der anschließenden vermutlich europaweiten Agonie der linken Szene war ungefähr ab der Jahrtausendwende wieder eine gewisse Aufbruchstimmung zu spüren. In Hamburg gab es wieder größere Demos, anfangs gegen die rechte Regierung mit CDU und dem in der ach so liberalen Hansestadt überaus erfolgreichen rechtspopulistischen „Richter Gnadenlos“ Ronald Barnabas Schill, später gegen größere Nazi-Aufmärsche, so auch wenige Monate vor meinem Wegzug recht spektakulär am 1. Mai 2008 in Barmbek.
Hamburg veränderte sich und das nicht nur zum Positiven. Das Megaprojekt Hafencity spielte für mich eine untergeordnete Rolle. Dafür wurden die lange gehegten Befürchtungen für das Schanzenviertel wahr und die Gentrifizierung schwappte irgendwann wie eine Sturmflut über das Viertel. Die Rote Flora wurde zum dekorativen Biotop für galaotrinkende Hipster und Yuppies. Und das hübsche Ottensen, mit seinen verwinkelten Gassen Altstadtersatz für die überwiegend im typischen Nachkriegsstil verunstaltete Innenstadt, fiel endgültig der Umstrukturierung zum Zentrum der Ökoschickeria mit gefühlten 100 Prozent Grünwähler*innen-Anteil anheim.
Ich wechselte mit meiner Stammkneipe Dschungel (in der ich meine heutige Ehefrau kennenlernte) die Straßenseite der Schanzenstraße. Der Umzug zum ehemaligen Schlachthof kam erst nach meiner Zeit. Schmerzhaft war das Ende des Sparr am Hamburger Berg, best Kneipe ever, und der Clubs an der Hopfenstraße. Mit der Fankneipe Jolly Roger zog ich vom Kiez an die Budapester Straße.
Unzählige Konzerte sind mir in Erinnerung, aus chronischer Finanznot seltener in den bekannten größeren Hallen außer der lange Jahre subventioniert-preiswerten Fabrik, dafür in den vielen kleineren Locations wie das Hafenklang, Knust, Störtebeker und Molotow, um nur einige zu nennen. Doch das „Herzstück“ der Ausgehkultur waren die Spiele des FC St. Pauli im Millerntor-Stadion, das im Lauf der Jahre komplett umgebaut wurde. Einige Jahre trafen wir uns nach den Spielen mit einer eigenen kleinen, sehr feinen Fanszene bis zu dessen Schließung im Local an der Wohlwillstraße. Danach war es endgültig Zeit zu gehen.
Was ich immer vermisst habe
Nicht die provinzielle Abgrenzung der Einheimischen oder die kalte Umstrukturierung der Wohnquartiere zerstörten meine Liebe zu Hamburg, sondern ich vermisste immer etwas, was bei aller Lust auf ausgedehntes Nachtleben und Interesse am politischen Geschehen einen wichtigen Teil meines Lebens ausmacht: Die Landschaft, die Flora (nicht die rote) und der Lebensstil in Süddeutschland. Ich habe unzählige Ausflüge ins Umland, nach Blankenese, ins Alte Land, nach Vierlande, in die Harburger Berge, ins Duvenstedter und Sülldorfer Brook gemacht. Doch die Lebensqualität einer Wanderung in der Pfalz mit einem Schorle vor einer Wanderhütte mit Blick über das bewaldete Mittelgebirge und die Weinberge konnte das nicht ersetzen. Das angeblich große Plus Hamburgs, die Nähe zu Nord- und Ostsee, ist eine glatte Lüge. Mit dem Zug dauert es Stunden an die Nordsee, mit dem Auto bleibt man meistens im Stau stecken, zur Ostsee hin sieht es nicht viel besser aus. Von unserer Wohnung in Mannheim aus bin ich in einer halben Stunde bis an den Rand des Odenwalds geradelt und mit dem Auto genauso schnell in der Pfalz. Frankreich ist viel näher als Sylt von Hamburg aus. Hier wachsen Walnuss-, Maronen- und Feigenbäume, Kiwi und natürlich großflächig Trauben. Der Frühling ist früher, der Herbst länger. Die Menschen sitzen meistens bis in den November draußen, jede*r quatscht mit jeder bzw. jedem und niemand findet es komisch, wie ich spreche und was für einen Humor ich habe …
Natürlich ist das eine Frage der Prioritäten. Mit Mitte zwanzig ist Hamburg sicherlich spannender als Mannheim. Ich habe das Glück, jetzt mit Mitte fünfzig beides gehabt zu haben. Doch Hamburg hätte es auch ein paar Jahre weniger getan. Am Ende lebte ich wieder völlig prekär, dazu alleinerziehend mit meinem damals einzigen, dort geborenen Sohn, die letzten zwei Jahre arbeitete ich als Touristenführer. Ich kannte die Stadt in- und auswendig. Niemand kann mir vorwerfen, ich hätte meine Liebe voreilig verraten. Es hat einfach nicht gepasst. Leider hat mich diese Erkenntnis fast zwei Jahrzehnte meines Lebens gekostet.